Wie überleben Rentner in der russischen Teilrepublik Tatarstan?
Der eigene Gemüsegarten als Lebensversicherung

Von Alexei Djomin*

Kasan, im Dezember

Der 72-jährige Anwar Hajrullin ist schon seit zwölf Jahren Rentner. Er lebt allein in Kasan, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tatarstan an der Wolga. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Anfang der siebziger Jahre hatten er und seine Frau eine Zweizimmerwohnung vom damaligen Sowjetstaat erhalten, in welcher sie mit ihren zwei Töchtern lebten. Es war damals sehr eng, denn die Wohnung ist nur 32 Quadratmeter gross. Die Töchter, die 38-jährige Dinara und die 44-jährige Gulnara, sind heute verheiratet, und deshalb gibt es jetzt genügend Platz in der Wohnung. 45 Jahre lang hatte Anwar Hajrullin, ein hoch qualifizierter Schlosser, in einem Kompressorenwerk gearbeitet. Auf seinem Sparkonto hatte er genug Geld, um ein Auto kaufen zu können. Doch die Währungsreform Anfang der neunziger Jahre und die Entwertung des Rubels liessen die Ersparnisse drastisch schrumpfen.

82 Franken Rente
Als Anwar Hajrullin in den Ruhestand trat, genügte sein Lohn noch, um die Familie zu ernähren und manchmal sogar den Familien der Töchter zu helfen. Ausserdem besass er mit seiner Frau ein Grundstück von 500 Quadratmetern. Es reichte aus, um eigenes Gemüse und Früchte für den ganzen Winter zu produzieren. Auf dem Markt kauften sie fast nichts. Dieses Grundstück und ein kleines Haus, welches Hajrullin selber gebaut hatte, sind ihm geblieben. Aber ihm fällt die Gartenarbeit immer schwerer, denn Blutdruck und Beinschmerzen plagen ihn. Seine Tochter Dinara, die auch in der Stadt lebt, hilft ihm, und manchmal tun dies auch die Enkel. Zurzeit erhält Hajrullin vom Staat eine monatliche Rente von 1480 Rubel (82 Franken). Davon gehen 20 Pro-zent für Medikamente weg. Die Wohnungsmiete schlägt mit 150 Rubel (9 Franken) zu Buche. Er kleidet sich einfach. Zeitungen oder Zeitschriften abonniert er keine. Als einziges Privileg hat er das Recht, die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos zu benutzen, beispielsweise wenn er zu seiner Tochter fährt.

Tatarstan hat 3,5 Millionen Einwohner, davon sind 959 000 Rentner. Das Existenzminimum beläuft sich nach Berechnungen örtlicher Soziologen auf 770 Rubel pro Monat (43 Franken). Tatsächlich beträgt die minimale Rente jedoch nur 600 Rubel. Was kann sich ein älterer Mensch mit diesem Geld hier kaufen? Ein Päckchen chinesischer Instant-Nudeln kostet 10 Rubel, 400 Gramm Brot 3 Rubel, ein Liter Milch 7 Rubel, ein Kilo Kartof-feln 5 Rubel. Dies alles macht 25 Rubel pro Tag aus. Fleisch, Käse, Butter, Eier, Wurstwaren und Früchte gehören hingegen längst zu Luxusartikeln. Geschäfte besuchen die Rentner eher selten. Ihre Einkäufe tätigen sie vorwiegend auf den Märkten, den sogenannten Basaren. Im Sommer fährt die Mehrheit der Rentner zu ihren Datschen, wo sie auf kleinen Grundstücken vom frühen Frühling bis zum späten Herbst arbeiten, um sich mit Gemüse für den Winter einzudecken. Ein Stück Land von 300 bis 500 Quadratmetern und ein kleines Bretterhäuschen helfen jenen zu überleben, die das ganze Leben lang an die «strahlende kommunistische Zukunft» geglaubt und in der Hoffnung auf ein gesichertes Alter gearbeitet hatten. Die staatlichen Erschütterungen und die Unfähigkeit der russischen Machthaber nach der Auflösung des Sowjetregimes haben ihnen diese Hoffnung entzogen. Die Geldreformen Anfang der neunziger Jahre und die Rubel-Entwertung vernichteten den grössten Teil der Ersparnisse. Viele ältere Menschen leiden unter dieser «Kränkung», sie hassen das jetzige System. Deshalb nehmen viele Rentner an den von den Kommu-nisten organisierten Demonstrationen teil. Aber mit jedem Jahr lichten sich die Reihen der Teilnehmer: Die durchschnittliche Lebenserwartung nimmt in Russland unentwegt ab.

Zu wenig Arbeitsplätze für Pensionierte
In Tatarstan wie in ganz Russland gehen Männer mit 60 und Frauen mit 55 Jahren in Pension. Ungefähr zehn Prozent setzen ihre berufliche Tätigkeit jedoch fort, denn sie wollen sich mit der Armut nicht abfinden. Der Staat aber zahlt ihnen die Rente nicht in vollem Umfang aus: Ungeachtet des Berufs (Arzt, Wissenschafter oder Putzfrau) bekommen die erwerbstätigen Rentner gleich viel Geld, nämlich 770 Rubel. Laut den Angaben des Ministeriums für Sozialfürsorge Tatarstans wäre die Hälfte der Rentner, etwa 450 000 Personen, in der Lage weiterzuarbeiten. Doch es fehlt an Arbeitsplätzen, dem dafür nötigen Geld. Das Rentengeld wird vom staatlichen Rentenfonds Tatarstans in Form einer obligatorischen Abgabe gesammelt, die jeder Betrieb zu zahlen hat. Die Republik Tatarstan hat noch immer keinen nichtstaatlichen Rentenfonds. Aber es gibt zahlreiche Organisationen, welche den Rentnern in rechtlichen Fragen helfen und sie vor der Bürokratie schützen. Am einflussreichsten ist der Rat der Veteranenorganisationen. Seit dem Amtsantritt Putins verliert Tatarstan allmählich seine frühere Selbständigkeit in vielen finanziellen und politischen Fragen. Wie wird sich diese Zentralisierungspolitik auf das Leben der Rentner in Tatarstan auswirken? Die Sozialministerin Nowikowa beantwortet diese Frage nur ausweichend: «Wahrscheinlich wird sich nichts ändern, denn die Rentengelder werden im Rentenfonds gesammelt, und dieser steht Tatarstan zur Verfügung.»

* Der Autor lebt als freier Journalist in Tatarstan.


© Neue Zürcher Zeitung

 










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